Watt a wonderful world oder mehr Farbenspiel im Fahrtenspiel
Die Saison ist fast schon wieder Geschichte. Die Zeit rast aber auch wieder, oder? Rast man mit der Zeit oder rast sie an einem vorbei?
Sitzt man auf dem geliebten Fahrrad und bereitet sich auf die Saison vor, scheint die liebe Zeit auch noch um ein Vielfaches schneller abzulaufen. Erst heißt es: „Geil, die Saison beginnt“ und gleich im Windschatten der Verfolgergedanke: „Ach du scheiße, die Saison beginnt.“ Panik macht sich breit, ob der Tatsache, dass wohlmöglich die ersten Prüfungen mit Ziellinie an die Tür bollern. Man meint, man sei noch völlig untrainiert und ehe man sich versieht, steckt man schon mittendrin im Jahr. Abgefahren!
Vorbereitung bedeutet Alles! Und sowieso hat man hat immer viel zu wenig davon. Wie früher bei Klausuren inner Penne. Die persönlichen Bestzeiten-Ziele sitzen einem plötzlich im Nacken und das Langstrecken-Highlight ist nur noch „Kurzstrecke“ entfernt. Pah! Was ein Wechselbad der Gefühle beim nahezu täglichen Kilometersammeln: Von absoluter Motivation bis hin zur puren Verzweiflung, von himmelhochjauchzend bis tief betrübt, von der Top-Frühform bis hin zum Früh-Formtief. Ist man stark, schnell und leidensfähig genug?
Bei dem Gedanken an die gesteckten Ziele macht sich also Nervosität breit und man vergisst darüber schnell die ruhigen, langen Ausfahrten im Winter, die Besuche im Fitnesstempel und die Intervalle auf der Rolle, die doch den Grundstein für ein erfolgreiches Jahr gelegt und das Gewissen beruhigt haben sollten. Die wenig romantischen und kalten Trainingseinheiten durch entlaubte und triste Landschaften nagen am Nervenkostüm. Die Kilometer sind voller Sehnsucht nach kurzer Kleidung und nach dem Gefühl einer lauen Brise im Gesicht. Zeitgleich versucht man mit den warmen Gedanken schon seine Füße aufzutauen, ehe es die heiße Dusche machen muss. Die Sehnsucht nach der Sonne auf der Haut, die die ersten Kanten auf die Pelle brennt und dem Duft nach blühenden Wiesen und Wäldern, wenn man nicht grade eine Allergie zur Ausrüstung zählen muss. Man möchte endlich mühelos dahingleiten, spüren wie sich die Kraft aus den Beinen in absoluten Vortrieb verwandelt und sich endlich inmitten einer blühenden Sommerlandschaft davonträumen.
Und weil die Zeit fliegt, als würde sie das Rennen ihres Lebens fahren, ist es ja auch so wichtig sie „richtig“ zu nutzen. In dem Punkt sind sich jedenfalls wohl alle einiger, als in dem Punkt was „richtig“ dabei eigentlich genau heißt.
Trainieren wie ein Profi vielleicht? Hm. Etwas zu viel des Guten. Aber
das Training professionell perfektionieren – ist das vielleicht der
Schlüssel zum Erfolg?!
Nachdem die Trainingszeit nun jahrelang in Pulsbereiche zerhackt wurde, ist unlängst ein Wattmessgerät der erschwingliche Türöffner zur Leistungssteigerung an der Amateursport-Pforte geworden. Die Waffe, um sich an die Spitze der persönlichen Leistungsfähigkeit zu treten und den Trainingsbuddy vom Segment-Thron zu stürzen.
Trainingscomputer zeichnen also den Erfolg auf, jeden Meter und alle anderen sehr, sehr wichtigen Parameter der Ausfahrt. Der ständige digitale Vergleich mit Trainings-Freund und Wettkampf-Feind ist bis ins kleinste Detail möglich. Die Computer diktieren uns Intervalle, Intensitäten und Umfänge. Sie sagen uns ob wir erholt sind oder müde und ob wir unsere Belastungs-Schwellen schon verschoben haben – und wir glauben brav, was uns angezeigt wird – natürlich nur sofern uns gefällt, was uns suggeriert wird. Was uns einst unser Körper signalisiert hat lesen wir gutgläubig auf dem Display ab. Wattwerte definieren, ob wir gut drauf sind oder der Form hinterherjagen. Sie lassen über Talent mutmaßen oder über dessen Abwesenheit. Wir können dank der Wattwerte sekundengenau und effizient trainieren und überwachen jede Pedalumdrehung.
Zack, ist man zum Zahlenjunkie mutiert und hängt an der digitalen Watt-Nadel. Unregelmäßigkeiten in der Aufzeichnung oder gar Aussetzer des Wattmessers sind eine Katastrophe und ruinieren die gesamte Einheit. Was ein Albtraum! Lücken in der Aufzeichnung sind schließlich Lücken im Training! Was nicht in sozialen Netzwerken auftaucht, entspricht nicht der Wirklichkeit und wurde somit nie gefahren. Trainings-Zeugen gibt es auch keine mehr, denn unsere Wattwerte sind so individuell und das Training so speziell, dass wir nur noch selten zum Gruppentreff fahren können. Wie hypnotisiert starrt man auf den Zahlentanz am Lenker.
Und ehe man sich versieht verblühen die duftenden Wiesen wieder. Die Durchschnittstemperatur der Füße sinkt und die Anzahl der Schichten an Kleidung steigt. Die Sonne geht wieder eher unter und taucht die wunderschönen bunten Landschaften mehr und mehr in grau. Die Eisdielen, an denen wir nicht gehalten haben, holen die Stühle wieder rein und die Bäume schmeißen mit ihren Blättern. Die Saison neigt sich dem Ende, ohne dass wir es so „richtig“ bemerkt haben.
Illustration und Text
Jule Wagner